Jedes Märchen hat einen Anfang...
Rapunzels Turnschuh
Kapitel 1
Ich setzte mich in die erste Reihe, um so zu tun, als würde ich die Vorlesung wahnsinnig interessant finden – sogar mit einem Smartphone in der Hand. Was würde ich bloß mit der ganzen Zeit anfangen, wenn ich kein Handy hätte? Dann müsste ich wohl wirklich zuhören. Und mir würden die Ohren abfallen.
Ich war schon stolz auf mich, weil ich überhaupt zur
Vorlesung ging, denn wenn es einen Preis für die langweiligste Vorlesung des
Jahres gäbe, dann würde dieser Dozent den Preis abstauben. Er las alles von den
Blättern ab, die er vorbereitet hatte – und er sah die Studenten nur selten an.
Wenn er mich anschaute, heuchelte ich natürlich immer Interesse.
Ich war mir ziemlich sicher, dass der Dozent nicht einmal
mein Handy sah, das die ganze Zeit über auf der Bank lag.
Immerhin hinderte mich mein Smartphone daran, einfach
einzuschlafen. Normalerweise schrieb ich meinen Freundinnen über hundert
Nachrichten – in einer einzigen Vorlesung. Das war bestimmt ein Rekord – dafür
müsste ich berühmt werden!
Irgendwie schaffte ich es trotzdem, etwas von der Vorlesung
mitzubekommen – und ich wusste sogar, wie der Dozent aussah, der seine Augen
nicht von seinen Notizen lassen konnte. Seine Haare waren schon grau – und er
trug meistens einen schwarzen Anzug.
Die Vorlesung würde schon in zehn Minuten beginnen – aber
das war gar kein Problem. Denn ich war vorbereitet. Ich hatte mein Handy bereits
in der Hand – und es war angeschaltet.
Mit Beginn der Vorlesung würde zeitgleich mein Chatmarathon
anfangen.
Als der Dozent den Raum betrat, schrieb ich meiner besten
Freundin Kathleen eine Nachricht: Hallo, wie geht es dir, Süße?
Sie antwortete mir sofort – denn wie könnte es anders sein?
Meine Freundin saß auch in einer langweiligen Vorlesung – und sie würde bestimmt
vor Langweile sterben, wenn wir nicht miteinander chatteten. Da wir uns an so
gut wie jedem Tag sahen, hatten wir uns nicht besonders viel zu sagen – aber,
wenn es sein müsste, würden wir sogar hundert Nachrichten über das Wetter
schreiben.
Ich war schon nach einer kurzen Weile so vertieft in die
Nachrichten, dass ich nicht mehr besonders viel von der Vorlesung mitbekam. Es
ging wohl um mögliche Welten – oder so etwas in der Art. Das Thema war mit
Sicherheit sehr interessant, aber der Dozent schaffte es irgendwie, sogar aus
den interessantesten Themen ein Schlafmittel herzustellen. Das war ein Talent!
Zweifellos!
Ich tippte wie eine Besessene Worte in mein Handy ein, doch dann
wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein junger Mann öffnete die Tür – und
er betrat den Vorlesungssaal.
„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich habe den
Vorlesungssaal gesucht“, teilte er mit. Er hatte kristallblaue Augen, in denen
man versinken könnte. Und kastanienbraune Haare, die mich an den Herbst
erinnerten.
„Kein Problem. Sie können sich setzen“, meinte der Dozent.
Dann las er einfach weiter seine Notizen vor. Ich beachtete gar nicht, was der
Dozent sagte. Ich schaute nur den Mann mit den kristallblauen Augen an. Er
hatte nicht nur die schönsten Augen auf der ganzen Welt, sondern auch das
charmanteste Lächeln, das je meine Welt erhellt hatte. Ich lächelte ihn an, und
ich hoffte, dass er sich neben mich setzen würde. In der ersten Reihe waren
noch sehr viele Plätze frei.
Der Mann ging jedoch an mir vorbei – und er setzte sich in
die hinterste Reihe.
Wieso tat er das? Hatte er mich etwa gar nicht bemerkt?
Vielleicht hatte ich mich an diesem Tag viel zu unauffällig angezogen – und
meine Schminke hätte auch auffälliger sein können. Ich trug eine weiße Bluse
und eine blaue Jeans. Die Eulen-Kette war auch nicht gerade ein Magnet.
Außerdem hatte ich nur einen pinken Lippenstift und
Wimperntusche benutzt.
Ich atmete tief ein – und ich atmete wieder aus. Denn der
junge Mann hatte mir für wenige Sekunden den Atem geraubt. Ich war mir ziemlich
sicher, dass er mich angesehen hatte. Wieso hatte er sich nicht neben mich
gesetzt?
Würde er diese Vorlesung regelmäßig besuchen? Ich hatte ihn
noch nie zuvor an der Universität gesehen, aber das musste nichts zu bedeuten
haben, da die Universität sehr groß war.
Nächstes Mal würde ich ein feuerrotes Kleid anziehen – und
ich würde roten Lippenstift auftragen. Ich hoffte nur, dass der geheimnisvolle
Unbekannte dann auch wieder da sein würde.
Ich hatte mich noch nie zuvor für Männer interessiert. Aber
dieser junge Mann hatte etwas an sich, etwas Besonderes.
Ich würde ihn so gerne kennenlernen...
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